Sehnsucht nach dem starken Mann?

Die Kommentare zu Lühmanns Artikel geben dem Autor recht, egal, wie ehrlich empört und berechtigt seinen Thesen widersprochen wird. Denn die Kommentatoren haben - in Anlehnung an Marx - Lühmann nur gelesen, es kommt aber darauf an, ihn zu verstehen!

Was Lühmann schreibt ist nämlich nur das Eine, zudem das Unwichtige. Viel wichtiger ist, was Lühmann nicht schreibt. Doch gerade das macht seine eigentliche Botschaft aus. Diese Botschaft ist denkbar einfach: Erstens, wir altgedienten Wessis sind moralisch überlegen und dadurch die rechtmässigen Bestimmer über Deutschlands Schicksal. Zweitens, das AdenauerErhardBrandtSchmidtKohl-Reich der Seligkeit lebt und währet ewiglich. Diese Botschaft überschwemmt in regelmässigen Wellen die westdeutsche „Qualitätspresse“ und Lühmann ist nur einer ihrer Propheten. Man kann gar von einer eigenen Gattung reden, die sich in verschiedener Verkleidung ungebrochener Popularität in den Redaktionsstuben erfreut.

Schauen wir uns also einmal an, was Lühmann schreibt, und was nicht. L schreibt: "Fast 60 Jahre ostdeutsche Diktaturerfahrung haben die ostdeutsche Gesellschaft weitaus nachhaltiger geprägt als die halbe Generation Demokratie seitdem." Was er nicht schreibt: Erstens, wie lächerlich es ist, Hitler und Honecker gleichzusetzen. Zweitens: „Wir im Westen haben 60 Jahre Demokratieerfahrung und sind dadurch jung, schön, stark und klug geworden.“ So klug nämlich, dass wir wissen, was politisch geht und was nicht. Es geht eben nicht, dass Bürger sich vom Parteienstaat alter westdeutscher Prägung abwenden („Parteien gelten wenig...“, Skepsis gegenüber der Demokratie und ihren Institutionen ist verbreitet.), und wenn doch, dann zeugt es von fehlender politischer Reife und Urteilsfähigkeit: „Der ostdeutsche Wähler erscheint [...] oft als unberechenbar. Denn nirgendwo sonst in Deutschland produzieren Wahlen so abrupte Wendungen und Brüche...“ Die Folgen liegen für den aufgeklärten Lühmann auf der Hand: „Unübersichtliche [...] chaotische [...] Bündnisse wären die Folge, ja [...] Unregierbarkeit.“ Was Lühmann nicht schreibt ist, dass Skepsis und Misstrauen gegenüber den bestehenden Institutionen und Riten angebracht sein könnten. Dass die westdeutschen Erfahrungen für Ostdeutschland nichts taugen könnten und mithin der Wähler einmal ernst genommen werden sollte. Ganz im Gegenteil, wie damals vor 1989  steht der neue Mensch auf dem Wunschzettel. Soll er doch nur endlich kommen und die heile Welt der Lühmänner auch gut finden! Die Welt aber ist gut, so wie sie ist und darf auf keinen Fall angezweifelt werden. Natürlich steht Lühmann damit auch im Widerspruch zu Personen wie von Weizsäcker und Hamm-Brücher. Doch die kommen aus einer anderen Liga und werden wohl auch noch dort sein, wenn das System reformiert würde, es mehr Demokratie gäbe und weniger Parteienstaat. Ob für Lühmanns dann noch das Wohlstandsversprechen des alten Reiches gilt, ist weit weniger sicher. Also muss eines sichergestellt werden, dass Fehlerdiskussion nicht stattfindet. Das Problem ist der (ostdeutsche) Mensch.

Dass sich nun überwiegend Ossis über den Artikel (zu Recht) echauffieren, kann Lühmann getrost als Bestätigung verbuchen, denn seine Botschaft ist sowieso nicht für sie gedacht, sondern richtet sich an ihn selbst, oder besser an seine imaginierte Leserschaft, die sich wie er auch, aus den westdeutschen Mittelstand-Durchschnittsintellektuellen rekrutiert, aber nicht aus Ossis und abgehängten westdeutschen Einheitsverlierern. Seine Klientel bedarf genau solcher Artikel - „von welcher Seite auch immer“ - , in denen sie sich immer wieder selbst vergewissern kann, dass der Sturm der Zeitenwende an ihnen vorüber zieht und sie weiterhin in gut bezahlten Beamten- und Angestelltenjobs dem Ruhestand im Eigenheim mit gefülltem Weinkeller und nur unterbrochen von Weltreisen entgegendämmern können. Solange sich die Ossis in Rechtfertigungsorgien mit sich selbst beschäftigen, stören sie nicht weiter. Denn das ist der ultimative Mechanismus der Artikel dieser Lühmann-Gattung. Den Ossis immer mal wieder ein Stöckchen hinhalten, um ihre Empörung und ihren Unmut über die Zustände auf sich selbst zurück zu lenken. Und so geht es in ewiger Wiederkehr: Töpfchen-Pfeifer, Babyleichen, Neonazis/NPD; immer wieder sehr beliebt: Doping, PDS-Erfolge. Unschlagbar in jeder Hinsicht ist natürlich das Stasiouting des Monats. Lühmann hat lediglich einmal mehr diesen Mechanismus bedient und wir dürfen mit Langeweile auf die nächste Sau warten, die mit absoluter Sicherheit wieder durch das Dorf getrieben wird.

 

Christian Müller-Kademann, April 2008