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Reflexionen zum AfD-Wahlerfolg |
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Reflexionen zum AfD-Wahlerfolg |
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© Christian Müller 2017 |
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Der Täter: Eine Leiche
Ostdeutsche »haben noch heute das Gefühl, Dinge, die in ihrem Leben passieren, nicht kontrollieren zu können« lautet ein Befund der DIW-Studie »Let Bygones Be Bygones?« (Spiegel online, 9.6.2016). |
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Unwillkürlich drängt sich die Frage nach dem Warum und eine Untersuchung der Universität Leipzig auf. Der Spiegel hatte darüber berichtet: Die Mehrheit der Führungspositionen in den ostdeutschen Ministerien wird von Westdeutschen besetzt und Ostdeutschland sei die Region in Europa, wo die Ansässigen am wenigsten von dem besitzen, womit vor Ort produziert wird. |
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Spannende Fakten und spannende Zusammenhänge, über die man gerne mehr erfahren möchte. Doch vergebens, die Erklärung der DIW-Publikation lautet, ein Leichnam von bald 26 Jahren ist Schuld: die DDR. Der Vorhang fällt und alle Fragen offen. |
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Seriöse Forschung und seriöse Forschung
Es gibt jedoch keinen Grund, die Seriosität der DIW-Forschung anzuzweifeln. Viel eher lohnt es sich darüber nachzudenken, warum die Verantwortung für schwierige ostdeutscher Probleme immer wieder ganz schnell einem toten, besser getötetem Staatswesen angelastet wird. Eine heiße Spur bieten die mehr als 400 Leserkommentare auf Spiegel Online in weniger als 24 Stunden (Vergleich: »Motörhead-Fans müssen jetzt tapfer sein«: 7). Erste Schlussfolgerung daraus: das Thema Ost-West vermag immer noch Emotionen, Reaktionen und Diskussionen auszulösen. Für die Autorin, die im Archiv mit drei Artikeln vertreten ist, ist es unter diesem Aspekt ein Riesenerfolg. Ihre anderen beiden Beiträge erlangten bei weitem nicht dieselbe Aufmerksamkeit. |
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Wie also wäre die Diskussion verlaufen, hätte man andere Zusammenhänge untersucht, die Vergabe von Führungspositionen in Ostdeutschland diskutiert? Man weiß es nicht, aber die Story »Ossis sind pathologisch und die DDR ist Schuld daran« scheint eine sichere Bank zu sein. Das bestätigt auch ein Blick auf die Inhalte der Leserkommentare. Seit dem Ende der DDR folgen sie eigentlich immer demselben Skript. Ostdeutsche betteln darum, ihre tatsächlichen Erfahrungen zu berücksichtigen und Westdeutsche teilen souverän mit, dass sie Beobachtungen Für und Wider gemacht haben. Daneben gibt es natürlich die üblichen Rechtfertiger, Verletzten, Opfer, Sieger, Zyniker, Beleidigten, Besserwessis, Besserossis, Resignierten. Mit anderen Worten, die Diskussion rotiert seit einem Vierteljahrhundert unverdrossen auf der Stelle. |
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Drei Gründe gegen OptimismusLeider gibt es für diesen Zustand mindestens drei handfeste Gründe und diese lassen nicht viel Raum für Optimismus. |
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Erstens: Das Zielpublikum. Sowohl die DIW-Studie als auch der Spiegelartikel richten sich an ein westdeutsches Publikum. Das mag auf den ersten Blick überraschen, handelt es sich doch ein »ostdeutsches« Thema und das DIW ist eine wissenschaftliche Institution. Aber auch Institutionen werden von Menschen gelenkt. Für die deutschen Studienverfasser sind Gutachter relevant, und die sind in ihrer überwiegenden Mehrheit Westdeutsche oder zumindest westlich sozialisiert. |
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Die Expertin Julia Specht, die der Spiegel für einen Kommentar gewinnt, ist entsprechend und selbstredend Teil dieses westdeutschen Zielpublikums. Doch auch die Spiegelleser sind kaum ostdeutsch. Bei der Publikation wird auf die westdeutsche Zielgruppe, genauer auf deren Selbstbild, entsprechend Rücksicht genommen, zumindest lässt sie sich so lesen. |
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Die Botschaften der Publikation lauten ungefähr: Westdeutsche sind die Norm und ostdeutsche Abweichungen davon bedürfen einer Erklärung und Korrektur, die westdeutsche Sozialisation ist der ostdeutschen überlegen, da letztere pathologisches Verhalten erzeugt, die Ursachen für das Zurückbleiben Ostdeutschlands hat nichts mit der Übernahme des westdeutschen Systems zu tun. Letzteres ist übrigens darum so wichtig, weil es existentielle Fragen zum westdeutschen Selbstbild aufwerfen würde – existentielle Fragen werden aber nur an Ostdeutsche gerichtet. |
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Zusammengefasst ist die wesentliche Erkenntnis der DIW-Studie eine Selbstbestätigung westdeutscher Identität. In Ostdeutschland wird diese Erkenntnis allerdings zum Teil als Angriff auf die eigene Geschichte und Identität verstanden weil das ostdeutsche Selbstbild eben nicht bestätigt wird. Doch der Vorwurf eines Angriffs täte der Studie sehr unrecht. Die Herabsetzung der Ostdeutschen, durch die Definition des Westdeutschen als Norm etwa, ist nur ein Mittel zum Zweck der Selbstbestätigung, die Ostdeutschen selber spielen eigentlich gar keine Rolle. |
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Zweitens: Die Diskussionsplattform. Die DIW-Studie wie auch der Spiegelartikel zeigen wie in einem Brennspiegel die große Leere wenn es um seriöse Diskussionen über ostdeutsche Probleme geht. Oder einfacher gesagt, es gibt weder originär ostdeutsche Forschung noch originär ostdeutsche öffentliche Diskussion ostdeutscher Themen von nennenswerter Bedeutung. Das MDR-RiverBoat ist sicher kein Ersatz. |
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Die Ursache dafür ist ganz einfach. Kaum noch jemand dürfte sich an die Neue Zeit, Der Morgen, DT64, Die Wochenpost oder Sergej Lochthofen erinnern. Es gibt im Osten Deutschlands schlicht und einfach keine Plattform für ernsthafte politische Diskussionen, die nicht auf westdeutschen Säulen ruhte. Die Ausnahme von dieser Regel sind das Neue Deutschland, der Eulenspiegel sowie Pegida-Demos und AfD-Veranstaltungen, wobei bei letzteren die Seriosität eher in Frage steht. |
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In der Wissenschaft ist es leider nicht anders. Schaut man sich bei den sozialwissenschaftlichen Lehrstühlen im Land um, so sind sie fest in westdeutscher Hand. Das trifft sogar auf eigentlich ostdeutsche Institute wie das IWH in Halle und den Ifo-Ableger in Dresden zu. Der westdeutschen Position fällt somit die Richterrolle zu, was die Asymmetrie zwischen Ost und West noch verstärkt. Ostdeutsche weichen in dieser Situation auf die Straße, auf die Leserbriefspalten des Spiegels und auf das Kreuz bei der AfD am Wahltag aus. Der Zukunft dürfte keine Option dienlich sein. |
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Drittens: Die Selbst-Exkulpation. Westdeutsche diskutieren mit Westdeutschen für Westdeutsche, Ostdeutsche und die Probleme Ostdeutschlands sind bestenfalls Statisten. Eine zentrale Rolle kommt dabei ironischer Weise der DDR zu. Die DDR muss herhalten für alle Übel Ostdeutschlands und der Ossis. Das ist eine kommode Situation für alle Beteiligten. Denn zum Einen kann die DDR sich nicht wehren und sie findet mit gutem Grund auch keinen Anwalt ihrer selbst und zum anderen sind alle Beteiligten fein heraus: die Westdeutschen haben ja immer gewusst, dass das kommunistische System unterlegen ist und die Ossis haben mehrheitlich gar nicht mitgemacht, den DDR-Staat gar zerstört. Damit ist der gesamtdeutsche kleinste gemeinsame Nenner, dass die Verantwortung für das Schicksal Ostdeutschlands nicht in den eigenen, gegenwärtigen Händen liegt sondern in der Vergangenheit. |
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Was zu tun wäreAufgrund dieser Situation ist die Prognose für Ostdeutschland denkbar düster. Alle drei Gründe sind so strukturiert, dass sie auch in naher Zukunft ihre negative Wirkung entfalten werden und nicht verschwinden. Im Gegenteil. Bereits heute zeichnet sich ab, dass die Probleme Ostdeutschlands an die nachfolgenden Generationen vererbt werden. Das erkennt man unter anderem daran, dass auch nach 1990 Geborene mit ihrer vermeintlichen DDR-Sozialisation konfrontiert werden. |
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Wenn Führungspersonal neues Führungspersonal selektiert, werden immer tendenziell ähnliche Persönlichkeiten ausgewählt. Das ist mit ein Grund, warum es Frauen so schwer haben aber eben auch Ostdeutsche. Die bereits erwähnte Studie der Uni-Leipzig zeigt eben gerade auf, wozu das im Ergebnis führt. Ostdeutsche haben es entsprechend schwerer, sich mit »denen da oben« zu identifizieren, was fatale Rückwirkungen hat. Zum Beispiel senkt es die Motivation für außerordentliche Anstrengungen weil auch mit dem besten Leistungsausweis die Qualifikation »Wessi« nicht erreicht werden kann. Andererseits wird extremes Anpassungsverhalten belohnt, um nicht als ostdeutsch aufzufallen, was karriereschädigend wäre. Eine solche Verhaltensweise ist natürlich nur schwer mit dem Bedarf an initiativen Unternehmerpersönlichkeiten in Übereinstimmung zu bringen. Angesichts dieser Aussichten würde es einen unbeteiligten Beobachter sicher nicht verwundern, wenn die bestausgebildeten Ostdeutschen ihr Glück lieber in der Ferne suchen würden. |
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Da die Ursachen für die Probleme Ostdeutschlands nicht angemessen diskutiert werden können, wird es auch keine ehrliche Reflexion geben, ohne Reflexion keine Besserung. Andererseits sollte es jedoch zumindest gar nicht so schwer, sprich nicht teuer sein, die Diskussionskultur zu ändern. Die Forschung sollte sich vielleicht darum kümmern, wie das erreicht werden könnte. |
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Referenzen |
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http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/ddr-buerger-persoenlichkeit-ein-land-zwei-seelen-a-1096449.html |
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http://www.diw.de/sixcms/detail.php?id=diw_01.c.511729.de |
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http://www.mdr.de/heute-im-osten/wer-beherrscht-den-osten-studie-100-downloadFile.pdf |
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http://www.spiegel.de/karriere/studie-ueber-ostdeutschland-wenige-ostdeutsche-als-chefs-a-1094037.html |
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http://ze.tt/warum-wir-nicht-wiedervereint-sind/ |
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Bremen / Zurich 10.6.2016 (www.s-e-i.ch/archive/SPON-DIW.pdf) überarbeitet: 3.10.2017 |
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